13. November 2023
Krise der Wirtschaft? Oder Krise der Wahrnehmung?

Krise der Wirtschaft? Oder Krise der Wahrnehmung?

Krise hier, Krise dort. Die Medien sind voll mit diesem Begriff. Sind wir mittendrin oder täuscht uns bezogen auf die Wirtschaft nur die Wahrnehmung?

„Hurra, Deutschland ist wieder die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, noch vor Japan“, so könnte eine positive Wirtschaftsnachricht dieser Tage sein. Auf der anderen Seite hören und spüren wir überall, wo es in Sachen Wirtschaft eben nicht rund läuft in Deutschland. Arbeitskräftemangel, für 2023 ein Minus im Bruttoinlandsprodukt (BIP) und weiterhin hohe Inflation. Was stimmt also?

Krise: Ist die Lage vielleicht viel besser als wir alle meinen?

Dem deutschen Naturell entspricht es, Hürden als höher wahrzunehmen, als sie sind, und die Möglichkeiten, sie zu überspringen, kleiner zu reden, als es der Wirklichkeit entspricht. Mit anderen Worten: Das Glas ist häufiger halbleer als halbvoll. Oftmals möchte man den Deutschen zurufen: Seht die Dinge einfach mal etwas optimistischer.

Natürlich fällt dieser Appell gerade im ökonomischen Kontext angesichts einer Fülle an Zahlen, die eher Nachdenklichkeit erzeugen denn Euphorie, schwer. Mit jeder vermeintlich guten Nachricht ist wieder ein Nackenschlag verbunden. Auf die Meldung, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland 2024 nach Einschätzung der Wirtschaftsweisen immerhin ein Plus von 0,7 Prozent verzeichnen dürfte (nach minus 0,4 im laufenden Jahr), musste man sich vergegenwärtigen, dass die Bundesregierung vor nicht einem Monat für das kommende Jahr noch eine Wirtschaftsleistung in doppelter Höhe in Aussicht gestellt hatte.

Und auch nachdem die Nachricht die Runde machte, Deutschland hätte Japan im weltweiten Vergleich der Volkswirtschaften überholt und von Rang drei des Rankings des Internationalen Währungsfonds (IWF) verdrängt, musste man schnurstracks relativieren: Der Wechsel in der Reihenfolge ist nicht unbedingt einer Leistungssteigerung der deutschen Wirtschaft, sondern vielmehr dem Umstand geschuldet, dass der Yen aufgrund der lockeren Geldpolitik der Bank of Japan gegenüber dem US-Dollar abgewertet hat – und das Ranking des Internationalen Währungsfonds beruht nun eben einmal auf Dollar-Berechnungen. So fällt es aber natürlich schwer, für mehr Optimismus zu plädieren.

Wirtschaft nicht abschreiben

Nun ist es aber dennoch nicht angebracht, ins Gegenteil zu verfallen und die hiesige Wirtschaft gänzlich abzuschreiben. So bieten sich Deutschland durchaus Chancen: Im Bereich Künstliche Intelligenz etwa, einem der zukunftsträchtigsten Bereiche der Industrie, haben wir zwar noch enormen Nachholbedarf – aber dadurch auch enorm hohes Nachholpotenzial. Gleiches gilt für die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte: Lenkt Deutschland seine Ambitionen in diesen Bereichen in die richtigen Bahnen, kann es gleich mehrere seiner Herausforderungen bewerkstelligen. Auch wenn sich das bislang nicht – oder zumindest noch nicht sehr konkret – in Zahlen ausdrücken lässt.

Die nackten Zahlen

Damit nicht der Eindruck entsteht, außer KI-Fantasie und Fachkräfte-Hoffnungen gäbe es keinen Grund für Optimismus, hier noch ein kleiner mit Zahlen unterlegte Silberstreif am Horizont: Die Konjunkturerwartungen des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) für Deutschland sind in der aktuellen Umfrage vom Oktober 2023 deutlich gestiegen. Mit minus 1,1 Punkten liegt der ZEW-Indikator 10,3 Punkte signifikant über dem September-Wert. Darüber hinaus hat sich die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland stabilisiert. Der entsprechende Indikator sinkt leicht um 0,5 Punkte und liegt aktuell bei minus 79,9 Punkten.

Tipp: Mit dem extraETF Finanzmanager kannst du deine Investments analysieren und dein Vermögen an einem Ort überwachen – einfach, schnell und sicher.

Bekanntermaßen wird die Wirtschaft zu mindestens 50 Prozent von der Psychologie bestimmt. Dabei gibt es einen Haken: Viele von uns vergleichen Deutschland 2023 mit dem Deutschland von vor fünf oder zehn Jahren, als die Bahn eben weitaus pünktlicher fuhr, die Inflationsrate deutlich unter zwei Prozent lag und Lieferketten und vieles mehr noch weitaus zuverlässiger funktionierten. Damit verglichen haben wir enormen Verbesserungsbedarf. Vergleichen wir uns aber mit anderen Ländern, stehen wir nach wie vor viel besser da, als man meinen könnte. Der Maßstab, der Vergleich ist eben immer relevant.

Krise bei deutschen Aktien?

Apropos Vergleich: Wirft man einen Blick auf den Aktienmarkt, lässt sich dort auch keine Spur von Resignation feststellen. Gegenüber dem Dow Jones, dem Leitindex der USA, deren Konjunktur bekanntlich aktuell von vielen Seiten besser beurteilt wird als die des vermeintlichen europäischen Patienten Deutschland, hat der deutsche Aktienindex Dax in den vergangenen Jahren nicht einen Prozentpunkt verloren – und auf Jahressicht steht der Dax sogar besser da. Seine Durchschnittsrendite liegt seit den 90er-Jahren bei knapp 7,7 Prozent – und aktuell bewegt sie sich trotz jüngster Kursverluste bei mehr als zehn Prozent. 

Es gibt sie also noch, die guten Nachrichten. Mitunter ist die Suche danach nur etwas mühsamer. Diese lohnt sich aber, damit das Glas auch wieder einmal halbvoll erscheint. Wenn man es denn halbvoll möchte.

Über den Autor Jens Chrzanowski

Jens Chrzanowski, Deutschland-Chef XTB