26. März 2022

Inflation: Die Angst vor dem Tapering

Das Jahresende 2021 hatte es in sich. Insgesamt sechs Notenbank-Entscheidungen hielten die Märkte auf Trab und sorgten für wackelige Börsenkurse. Doch warum fürchten sich Profianleger so sehr vor steigenden Zinsen und anziehender Inflation? Wir erklären, was es mit dem Tapering auf sich hat.

Wucher ist das Böse. Das ist vollkommen klar. Niemand würde dem widersprechen. Schließlich mag auch niemand einen abnorm hohen Preis für ein Gut welcher Art auch immer bezahlen. Wucher wurde bereits während des Mittelalters durch Bibel, Evangelien, Kirchenväter und Kirchenrecht verfolgt. Dabei meint der Begriff im Grunde „jede Form von Leihe, bei der mehr restituiert werden musste, als gegeben war“, wie der Historiker Johannes Fried in seinem Text „Zins * als Wucher“ schreibt. Will sagen: Zinsen als Gewinn aus Darlehen waren sündhaft.

So gesehen braucht sich heutzutage also niemand zu sorgen. Wir leben in der besten aller Zeiten und frei von Sünde. Die Zinsen sind durch alle wesentlichen Zentralbanken vollkommen eingeebnet worden. Die Leitzinsen in der EZB liegen bei null, in den USA bei mickrigen 0,25 Prozent. Die Niveaus sind historisch niedrig. Das hat Auswirkungen auf unser aller Geld. Mit einem Viertelprozent verzinst die Openbank derzeit Guthaben auf dem Tagesgeldkonto. Damit ist das zur Santander Group gehörende Institut absoluter Spitzenreiter unter den Banken in der Kategorie Sichteinlagen-Verzinsung. Die niedrigen Guthabenzinsen halten zwar die Mehrzahl der Kreditinstitute nicht davon ab, durchschnittlich zehn Prozent für den Dispo-Kredit zu berechnen, aber das ist eine andere Geschichte. Von Bösem gibts derzeit offenbar keine Spur. Oder lauert es nur woanders?

Um dieser Frage nachzugehen, hilft es, dem Glauben gewisserweise abzuschwören. In Zeiten, in denen die Kirche an Einfluss verliert, soll er nicht den Blick auf die harten Fakten verstellen. Der Zins in seiner Funktion als Preis des Geldes ist etwa seit der Eurokrise abgeschafft. Von 1,5 Prozent Mitte des Jahres 2011 sank der Leitzins der Europäischen Zentralbank (EZB) mehrstufig auf null Prozent im März 2016. Seitdem verharrt er dort. Auf diese Weise konnten sich Staaten und Unternehmen beste Konditionen sichern und sich besonders günstig refinanzieren.

Hinzu kamen Aufkaufprogramme für Staats- und Unternehmensanleihen. Die Maßnahmen planierten Anleiherenditen völlig. Erstmalig lag die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihe Mitte 2016 unter null Prozent. Aktuell beläuft sie sich auf etwa minus 0,36 Prozent. Damit müssen Anleger Geld bezahlen, wenn sie dem Bund Geld leihen wollen. Oder anders ausgedrückt: Wenn der Staat 100 Euro Schulden via Bundesanleihen aufnimmt, muss er dafür keine Zinsen bezahlen. Finanzminister Christian Lindner erhält von den Gläubigern sogar 0,36 Euro. Ist das für Anlegerinnen und Anleger sinnvoll? Auf den ersten Blick nicht, denn wer möchte bei einem Investment schon draufzahlen. Doch in besonders unsicheren Zeiten parkt man Teile des Ersparten dann doch bei besonders vertrauenswürdigen und solventen Schuldnern. Neben der Bundesrepublik kommen da noch die Schweiz (Anleiherendite: minus 0,32 Prozent) und die USA in den Sinn (Rendite 1,41 Prozent). Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten gab es immer etwas mehr zu holen. Das bestätigt auch ein Blick auf den Leitzins der dortigen Zentralbank, der Federal Reserve Bank (Fed). Von 0,25 Prozent Ende 2008 ging es auf 2,5 Prozent vier Jahre später hinauf, ehe der US-Handelskrieg mit China und die Corona-Pandemie wieder billigeres Geld notwendig machten. Den Zins in seiner Funktion als Preis des Geldes reduzierten die Währungshüter der Fed erneut von besagter 2,5-Prozent-Marke kontinuierlich auf 0,25 Prozent Mitte März 2020. Und nun? Im Dezember 2021 stand der Präsident der Fed, Jerome Powell, vor der vermutlich schwierigsten Entscheidung seiner vergleichsweise jungen Karriere. Der oberste US-Währungshüter musste und muss die größte Volkswirtschaft der Welt auf die Abkehr der Nullzinspolitik vorbereiten, im Fachjargon Tapering genannt. Die Märkte sind nervös. mDrücken Inflation und anziehende Zinsen die Kurse von Aktien und Anleihen gleichermaßen in den Keller?

Toxisches Tapering?

Es könnten gleich drei Zinsschritte werden, die Powell im noch jungen Jahr durchführen will. Und hier schaut die Finanzwelt natürlich besonders genau hin, denn die Prognosen und Fed-Beschlüsse haben Signalwirkung für die gesamte Finanz- und Wirtschaftswelt. Bevor der Leitzins allerdings wieder steigt, fährt die Fed die Anleihekäufe zurück. „Wir lassen unsere Wertpapierkäufe schneller auslaufen“, erklärte Powell sein Vorgehen. „Denn mit steigendem Inflationsdruck und einem sich schnell verbessernden Arbeitsmarkt braucht die Wirtschaft nicht mehr diese Unterstützung in ständig wachsendem Ausmaß.“ Bisher hatte die US-Notenbank monatlich im Rahmen des Anleihekaufprogramms Staatspapiere und staatlich besicherte Hypothekenanleihen gekauft. Das Volumen sinkt nun ab Januar um 30 Milliarden Dollar auf 60 Milliarden Dollar. Bis März sollen die Ankäufe auf Null zurückgeführt werden. Anschließend soll die Leitzinserhöhung beginnen.

Bis Ende des Jahres 2022 könnte der Zins nach Erwartungen mehrerer US-Notenbank-Mitglieder wieder bei 0,75 Prozent bis ein Prozent liegen. Doch warum? Und warum dürfte diese Entscheidung Powell so schwer gefallen sein? In seiner Entscheidungsfindung spielen mehrere Faktoren eine Rolle. So muss Powell neben der allgemeinen Wirtschaftslage auch Punkte wie die Staatsverschuldung, den Arbeitsmarkt, die Inflation und die Währungsstabilität mit einbeziehen. Als wäre das nicht schon schwierig genug, kommt natürlich noch die gesamte Corona-Situation on top. Insgesamt eine toxische Kombination. Geht Powell zu drastisch vor mit den Zinsanhebungen, könnte er im schlimmsten Fall einen Crash bei den Aktien- und den Anleihekursen auslösen. Deswegen schauen Profianleger aktuell ganz genau auf die Fed.

Rekordwert bei US-Inflation

Ein ausschlaggebender Grund für Powells strengeren geldpolitischen Kurs war und ist die Preissteigerung. Im November 2021 lag die Inflationsrate in den Vereinigten Staaten bei 6,8 Prozent. So hoch notierte sie seit fast 40 Jahren nicht mehr. Die großvolumigen Anleihenankaufprogramme und das Corona-Hilfspaket von 1,9 Billionen US-Dollar, das im März 2021 den Kongress passierte, hinterlassen Spuren. Die hohe Liquidität im Markt sorgt für den Anstieg der Teuerungsrate. Die Haushalte bekommen das vor allem bei Lebensmitteln und Benzinpreisen zu spüren. Erschwerend kommt hinzu, dass Powell eine Lohn-Preis-Spirale erwartet. Aufgrund der sich verteuernden Preise fordern Verbraucherinnen und Verbraucher mehr Lohn. Das Plus auf dem Konto der privaten Haushalte befördert allerdings den weiteren An- stieg der Inflation.

Diese Spirale gilt es zu durchbrechen und zwar durch eine striktere Geldpolitik. Klingt einfach und praktikabel, doch besteht die Gefahr, dass steigende Zinsen das Wirtschaftswachstum abwürgen. Dies fiel mit 2,1 Prozent Wachstum gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) im dritten Quartal 2021 ohnehin eher mäßig aus. Zusätzlich würde sich durch einen Zinsanstieg der Dollar weiter verteuern, was der US-Exportindustrie schadet. Vom Zwischentief im Juni 2021 von etwa 0,81 Euro je US-Dollar stieg die Notiz der Leitwährung auf derzeit etwa 0,89 Euro. Warenausfuhren verteuern sich also für ausländische Käufer, da sie diese in Landeswährung, also in Dollar bezahlen müssen. Gleichzeitig verschlechtern sich die Refinanzierungsbedingungen für Unternehmen. Das macht sie an der Börse unattraktiver.

Konjunktur im Keim ersticken?

Erschwerend kommt die unklare Pandemie-Lage hinzu, verstärkt durch die Omikron-Variante. Das Infektionsgeschehen hat sich dynamisiert. Fraglich bleibt, welche Folgen ein weiteres Ansteigen der Zahlen für die Unternehmen hätte. Powell ist sich dessen bewusst und warnte zugleich vor der weiteren Ausbreitung der Virus-Variante. Vorteile gibt es allerdings auch. Fans von Anleihen und Anleihen-ETFs dürfen sich freuen. „In den USA scheint man die Inflationssorgen ernster zu nehmen. Im Unterschied zur EZB ist man gewillt, das Notfallprogramm schneller zu beenden, um den Weg frei für erste Zinserhöhungen zu machen. Da aber andererseits die Corona-Sorgen nach wie vor nicht aus dem Weg geräumt sind, besteht die Gefahr, dass die USA ins offene Messer läuft und das Pflänzchen der Konjunktur im Keim erstickt wird“, fasst Tobias Stöhr vom Finanzdienstleister Spectrum Markets die Lage zusammen.

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Die Lage in Europa

Was passiert auf dem alten Kontinent? Die britische Notenbank ist Mitte Dezember 2021 bereits vorgeprescht. Die Bank of England (BoE) erhöhte den Leitzins um 0,15 Prozentpunkte auf 0,25 Prozent und reagierte damit auf die hohe Inflationsrate. Damit hatte kaum jemand gerechnet. Ein sprunghafter Anstieg von Anleiherenditen und britischem Pfund war die Folge. In Norwegen erhöhte die Zentralbank den Zins auf 0,5 Prozent im Dezember, der nächste Schritt von 0,25 Prozentpunkten ist für März 2022 avisiert. „Notenbankentscheidungen dürften auch 2022 großen Einfluss auf die Bewegungen an den Zins- und Währungsmärkten haben. Anhaltender Inflationsdruck dürfte weitere Notenbanken dazu veranlassen, die Zinswende in Angriff zu nehmen. Deshalb sollten Anleiherenditen steigen, was mit Kursverlusten verbunden ist“, schreibt Chef- Anlagestratege Dr. Ulrich Stephan von der Deutschen Bank in einem Marktkommentar. Im Euro-Währungsraum ist hingegen nicht so schnell mit einem Anstieg zu rechnen. Allerdings werden die europäischen Währungshüter um EZB-Präsidentin Christine Lagarde wie bereits angekündigt das Notfallprogramm PEPP für Anleihekäufe in der Corona-Krise im März auslaufen lassen. Eine Zinswende, wie in den USA geplant, dürfte es im Euro-Raum erst im Jahr 2023 geben. Mittelfristig geht die EZB von einer Inflationsrate von etwa zwei Prozent aus. Das bleibt zu hoffen, denn die Verbraucherpreise in den Ländern der Eurozone haben sich im November im Schnitt um 4,9 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat erhöht.

Die EZB geht hier von einem Einmaleffekt aus, der sich zu Anfang des Jahres 2022 wieder auflösen sollte. Neben höheren Ausgaben der privaten Haushalte sollen ihrer Meinung nach die gestiegenen Energiepreise für die ungewöhnlich hohe Inflationsrate verantwortlich sein. Bleibt zu hoffen, dass sie recht behält.

Fazit

2022 dürfte für Anleihe-Investoren wieder interessanter werden. Die Kurse von Anleihen werden wahrscheinlich fallen, dadurch erhöhen sich die Renditen. Für Neuinvestitionen ist dies attraktiv. Allerdings sollte man nicht auf zu lange Restlaufzeiten setzen, sondern eher auf ETFs, die kurze Restlaufzeiten im Portfolio haben.