8. Oktober 2022

Börse 2.0: Willkommen in der VUCA-Welt – was das bedeutet

Der Bullenmarkt der vergangenen zwölf Jahre ist endgültig vorbei. Wir erleben aktuell den Beginn einer komplett neuen Börsenära. Wir zeigen dir, wie du jetzt mit dem sogenannten VUCA-Prinzip die Weichen für deinen langfristigen Börsenerfolg richtig stellst!

It‘s over, die Party ist vorbei! Die Lichter gehen an, die Musik hört auf zu spielen und hinter der Bar wird schon fleißig gewischt. Zeit zu gehen, unwiderruflich. Mit einem lauten „Raus mit euch, ihr nutzloses Gesindel!“ pflegte einst Frank Kuenster, Türsteher der berühmten King Size Bar in Berlin, seine Gäste morgens um 5 Uhr hinauszukomplimentieren. Und irgendwie scheint es, als hielte das Börsenjahr 2022 den gleichen Spruch für uns Anleger parat.

Minus 59 Prozent beim Bitcoin, minus 30 Prozent im Nasdaq 100, minus 27 Prozent im MDax, minus 20 Prozent im MSCI World – das ist die bittere Bilanz des ersten Börsenhalbjahres. Bei vielen Einzelaktien sieht es noch schlimmer aus. Delivery Hero, Zalando, About You, Coinbase *, Peleton – bei all diesen Werten stehen mehr als 50 Prozent Verlust auf der Uhr. Corona, Krieg, Inflation, Rezessionsängste: Lässt sich angesichts dieser toxischen Gemengelage überhaupt noch ein Crash vermeiden? Laufen wir sehenden Auges dem perfekten Sturm entgegen?

Goodbye, Bullenmarkt

Noch haben längst nicht alle Börsenindizes und Assetklassen Crash-artige Performances geliefert. Per offizieller Definition zeichnet einen Crash ein Verlust von mindestens 30 Prozent vom letzten Hochpunkt aus. Dies ist lediglich im Bereich der Tech-Aktien sowie bei den Kryptos der Fall. Ein Bärenmarkt hingegen wird ab 20 Prozent Minus ausgerufen – dieses Kriterium ist bereits bei fast allen Aktienindizes weltweit erfüllt.

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Eines lässt sich dennoch schon konstatieren: Die Börsenparty der vergangenen zwölf Jahre ist definitiv vorbei. Der längste Bullenmarkt der Finanzmarktgeschichte – er hat im Jahr 2022 seinen finalen Akt erreicht. Was wir aktuell in unseren Depots erleben, ist nichts weniger als eine Zeitenwende. Wir sind live dabei beim Eintritt in eine neue Börsenära! Eine Ära, die geprägt sein wird von Volatilität, Unsicherheiten und zunehmender Komplexität. Einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gibt es von nun an nicht mehr. Um erfolgreich zu sein, müssen Anlegerinnen und Anleger nach individuellen Lösungen suchen. Wer sich darauf einstellt und die Zeichen der Zeit richtig deutet, kann aber natürlich weiterhin sehr rentabel am Markt agieren. Denn Vermögensaufbau über die Börse ist und bleibt auch in einem stürmischeren Fahrwasser definitiv lohnenswert.

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12 Jahre „to the moon“

Lass uns uns einen Blick in den Rückspiegel werfen. Mit Ausnahme des sehr heftigen, aber auch sehr kurzen Corona-Crashs im März 2020 haben Anleger zwischen Ende 2009 und Ende 2021 fast ausnahmslos steigende Börsenkurse erleben dürfen, abgesehen von kleineren Korrekturen. Ultrabilliges Geld, ultraniedrige Inflationsraten und ultrastarkes Momentum haben dafür gesorgt, dass fast jede Assetklasse in diesen zwölf Jahren massiv an Wert gewann. Aktien eilten von Rekord zu Rekord, Immobilienbesitzer wurden binnen weniger Jahre zu Vermögensmillionären und Kryptowährungen flogen schnurstracks „to the moon“ und machten einige Millennials bereits in jungen Jahren zu schwerreichen „High Net Worth Individuals“.

Seit dem vierten Quartal 2021 bläst der Wind an den Märkten jedoch um einiges rauer. In den Depots vieler Privatanleger sieht es bereits aus, als hätte ein heftiger Sturm darin gewütet. Und ganz ehrlich, niemand kann garantieren, dass uns der große Krach nicht erst noch bevorsteht. An der Wall Street herrscht bereits Alarmstimmung. J.P. Morgan-Chef Jamie Dimon warnt vor einem drohenden Hurrikan, Goldman-Sachs- Banker John Waldron hält „das Zusammentreffen der vielen Schocks, die aktuell das System erschüttern“ für historisch beispiellos und Hedgefonds-Legende Ray Dalio wettet Milliarden auf weiter fallende Aktienkurse.

Was bedeutet VUCA?

Das Akronym VUCA stammt aus dem Englischen und kürzt die Begriffe Voatility (Volatilität), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Ambiguität, also Mehrdeutigkeit) ab. Das Kunstwort entstand Anfang der 1990er Jahre und beschrieb damals die Herausforderungen nach dem Ende des Kalten Kriegs. Nach dem Wegfall des Ostblocks als politisches Feindbild ging es darum, die neuen geopolitischen Bedingungen einzuordnen. Diese Bedingungen waren laut US-Militärstrategen geprägt von Ungewissheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit.

In den vergangenen Jahren hielt der VUCA-Begriff Einzug ins Management-Vokabular vieler Firmenlenker. In diesem Kontext bezieht sich VUCA vor allem auf die Herausforderungen, die im Zuge der Digitalisierung entstehen. In einer Zeit, in der selbst etablierte Geschäftsmodelle wie das der Autoindustrie Gefahr laufen, von branchenfremden Angreifern wie Tesla, Google oder Apple disruptiert zu werden, müssen Unternehmen, Führungskräfte und Belegschaften lernen, mit neuen Unsicherheiten und erhöhter Komplexität umzugehen. Gar nicht so leicht!

Manisch-depressive Börsen

VUCA lässt sich allerdings auch auf die Kapitalmärkte anwenden. Der Ukraine-Krieg und die galoppierenden Inflationsraten haben an den Märkten bereits für sehr hohe Volatilität gesorgt und viele Anleger stark verunsichert. Die Notenbanken hätten angesichts der steigenden Inflation die Zinsen bereits viel schneller und stärker anziehen müssen, um die Teuerungsraten in den Griff zu kriegen.

Gleichzeitig drücken die Nachwehen der Corona-Krise – vor allem die Störungen in den Logistikketten – sowie die unsichere Energieversorgungslage auf die weltwirtschaftliche Dynamik. Aus diesem Grund müssten die Notenbanken die Zinsen eigentlich senken, um für wirtschaftliche Stimuli zu sorgen. Allerdings ist dies aufgrund der Inflation und der ohnehin sehr niedrigen Zinsen schwerlich möglich. Auch können einige hoch verschuldete Länder wie Italien nicht mit staatlichen Investitionsprogrammen gegensteuern. Punktum: Auf kurz- bis mittelfristige Sicht sind gewisse Ambiguitäten und Zielkonflikte unverkennbar. „Das sorgt für eine durchaus undurchsichtige Gemengelage an den Kapitalmärkten“, sagt Börsenexperte Konrad Kleinfeld von SPDR.

Dies spiegelt sich auch in den zittrigen Kursverläufen an den Aktienmärkten wider. Statt eines schnellen, harten und heftigen Crashs changieren die Märkte zwischen manischen Kursschüben nach oben und depressiven Episoden nach unten. Verzweiflung und Euphorie geben sich manchmal binnen weniger Stunden die Klinke in die Hand. Abseits dessen gibt es auch auf lange Sicht etliche Risikofaktoren. Die Bank of America warnt in einer Studie vor einem sich zuspitzenden Machtkampf zwischen den USA und China. Die Analysten befürchten einen Tech-Krieg der Supermächte um die Vorherrschaft bei Zukunftsthemen wie künstlicher Intelligenz (KI). Der aggressive geopolitische Kurs Russlands bereitet den Strategen ebenfalls Kopfzerbrechen.

Gegen VUCA hilft nur VUCA

Um mit seiner Geldanlage erfolgreich durch die neue VUCA-Welt zu manövrieren, hilft nur eins: VUCA! Denn wenn man das Akronym positiv umdeutet, kann dieses auch für Vision, Understanding (Verstehen) Clarity (Klarheit) und Agility (Agilität) stehen. Lass uns einmal durchexerzieren, was diese positive Umdeutung konkret bedeutet.

Was ist in einem volatilen Börsenumfeld wichtig, um weiter am Ball zu bleiben? Ganz klar, ein „Purpose“, warum man sein hart Erspartes in Aktien, ETFs, Rohstoffe oder auch Kryptos investiert und die damit einhergehenden Risiken in Kauf nimmt. Man braucht also eine klare Vision dessen, was man erreichen möchte mit seiner Geldanlage – ein konkretes Anlageziel. Je konkreter, desto besser! Altersvorsorge? Vermögensaufbau? Dividenden? Alles sehr allgemein! Bei solchen Allgemeinplätzen besteht die Gefahr, dass man wild draufloskauft und seine Papiere dann schnell wieder losschlägt, sobald die Märkte scharf korrigieren.

Wäre es stattdessen nicht besser, eine konkrete Summe zu definieren, die man in einem bestimmten Anlagehorizont erreichen möchte? Zum Beispiel 500.000 Euro bis 60 Jahre? Oder eine angemessene Renditekennzahl, die man sich pro Jahr wünscht? Wie wäre es mit fünf bis acht Prozent pro Jahr? Auch eine bestimmte Ausschüttungshöhe pro Jahr ist ein konkretes Ziel. Wer sich vornimmt, 5.000 Euro pro Jahr an Dividenden zu kassieren, kann viel validere Investitionsentscheidungen treffen. Auch das Vorhaben, jährlich eine gewisse Summe X über Sparpläne zu investieren, kann ein konkretes Ziel darstellen. Denn erst dann ist man in der Lage, ausgehend von seinen Zielsetzungen die passenden Produkte und Anlagestrategien zu identifizieren. Das bringt uns direkt zu den nächsten beiden Aspekten.

Hier winken Chancen

Verständnis und Klarheit sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, welche ins Spiel kommen, sobald du deine Hausaufgaben bei der Vision bzw. dem Anlageziel erledigt hast. Nur wer ein klares Ziel hat, kann dieses ansteuern und entscheiden, wie man dies erreicht. Wenn du weißt, dass du innerhalb eines bestimmten Zeitraums von München nach Köln reisen möchtest, kannst du klar entscheiden, ob dz das Auto, die Bahn oder das Flugzeug nimmst. Übertragen auf das Thema Geldanlage stellen diese drei Reisemöglichkeiten die Wahl der passenden Investments dar. Dies gilt sowohl für die Assetklassen (Aktien, Anleihen, Krypto etc.) als auch für die Wahl der passenden Investitionsvehikel (Einzeltitel, ETFs, Zertifikate etc.).

Ausgehend von unserer Status-quo- Analyse zur veränderten Börsenlandschaft zeichnen sich aktuell bei den Assetklassen folgende Implikationen ab. Zum einen dürften Anleihen in den 2020er Jahren wieder eine größere Rolle im Portfoliokontext spielen. Anlegerinnen und Anleger, die erst in den vergangenen fünf bis zehn Jahren an die Börse gekommen sind, können es sich kaum vorstellen, aber: Mit Anleihen lässt sich durchaus auch Geld über regelmäßige Zinskupons verdienen. In einigen Bereichen – zum Beispiel den Emerging Markets – gibt es aktuell laut Anleihenexperte Konrad Kleinfeld von SPDR wieder Kupons in Höhe von 6,5 Prozent. „Die insgesamt höheren Kupons können mich für das Risiko von Kursschwankungen potenziell kompensieren“, sagt Kleinfeld. Für konservative Naturen werden Anleihen mit Sicherheit wieder zu einer attraktiven Alternative zu Dividendenaktien. Wer hier einsteigen möchte, sollte dies jedoch in Tranchen tun. Denn falls die Notenbanken die Zinsen weiter anheben, wird es bei bereits handelbaren Anleihen zu weiteren Kursverlusten kommen.

Im Aktienbereich zeichnet sich derweil ab, dass solider Value wieder richtig wertvoll wird. Lisa Hassenzahl, Gründerin der Vermögensverwaltung Her Family Office, hält Value-Werte für aussichtsreich, die von den steigenden Zinsen profitieren. Hierzu zählen Banken und Versicherungen. Auch Substanzwerte mit starken Geschäftsmodellen, moderaten Kurs-Gewinn-Verhältnissen von unter zehn sowie beständigen Dividendenhistorien dürften in den kommenden Monaten und Jahren eine gute Wahl sein. Investierbar sind diese Aktien zum Beispiel mit dem iShares Edge MSCI World Value Factor (WKN: A12ATG). Dieser brachte seit Auflage eine durchschnittliche Rendite von 6,5 Prozent pro Jahr. Intel, Toyota und Pfizer gehören zu den größten Positionen.

Auch wenn der Tech-Sektor im Zuge der sogenannten Sektor-Rotation (raus aus Tech, rein in Basiskonsumgüter) ordentlich Federn lassen musste, sollte man den Nasdaq 100 oder den TecDax längst nicht abschreiben. Die strukturellen Treiber, vor allem die Digitalisierung, sind nicht verschwunden. Viele Tech-Konzerne wie Microsoft, Amazon und Alphabet sind in ihren Geschäftsmodellen breit diversifiziert und äußerst profitabel. Und: Sie sind aktuell zum Teil wieder richtig günstig. Auf dem Höhepunkt der Dotcom-Blase hatten die Technologiewerte im S&P 500 ein KGV von 62. Das heutige KGV im Nasdaq 100 liegt bei 24. Auch die EBIT-Margen liegen heute im Nasdaq 100 mit 20 Prozent oberhalb des S&P 500 (16 Prozent). Ein Wiedereinstieg in den Nasdaq 100 kann also eine interessante Option sein.

Risikosteuerung und Renditekick

Das führt uns gleich zum nächsten und letzten Punkt. Die klare Empfehlung lautet: Investiere weiter! Das klingt banal, ist es aber nicht. Auf lange Sicht machst du alles richtig. Im Jahr 2030 wird die Börsen-Performance von 2022 höchstwahrscheinlich aussehen wie eine kleine Delle im Kursgefüge. So war es in der Vergangenheit und so wird es auf mittlere bis langfristige Sicht wieder sein. Also stell dir ein langfristig orientiertes Depot zusammen, das Ihrer Risikomentalität entspricht und eine breite Streuung über Assetklassen, Länder- und Branchengrenzen hinweg bietet. Du wirst sehen, die niedrigeren Einstiegskurse von heute bescheren dir den Renditekick von morgen. Und wenn du damit rechnen, dass es kurzfristig noch weiter runtergehen kann, dann steig doch einfach stufenweise ein. Du musst nicht deine komplette Liquidität in einer Tranche in den Markt werfen. Du kannst dich langsam Stück für Stück an dein individuelles Ideal-Portfolio herantasten. Dies ist übrigens Bestandteil einer jeden soliden Risikosteuerung. Genauso handhaben es auch die institutionellen Anleger.

Wichtig ist nur: Mach bei der Portfoliozusammenstellung keine Fehler. Wenn du zum Beispiel Einzelaktien und ETFs miteinander kombinierst, solltest du darauf achten, starke Überschneidungen und damit einhergehende Klumpenrisiken zu vermeiden. Die rasanten Zuwächse von Tesla, Nvidia und anderen Highflyer-Aktien haben zwar gezeigt, dass Übergewichtungen im Portfolio im positiven Fall, wenn die Märkte nach oben sausen, sehr starke Performances mit sich bringen.

Auf der anderen Seite besteht das Risiko, überSproportionale Rücksetzer aushalten zu müssen. Die Fondsmanagerin Cathie Woods, die 2020 aufgrund der irren Tesla-Rally und des hohen Tesla-Anteils in ihrem Depot sehr stark performte, kann ein Lied davon singen. Seither ist ihr Tech-Fonds (der ohnehin nicht sehr breit diversifiziert ist) um mehr als 70 Prozent abgestürzt. Die Kunst der smarten Portfolio-Allokation steht definitiv vor einer Renaissance.