9. Februar 2019
Norbert Keimling, Leiter der Kapitalmarktforschung bei StarCapital.

Norbert Keimling: „Der Markt ist kurzfristig nicht prognostizierbar"

Haben kurzfristige Aktienmarktprognosen in Wirklichkeit eher Unterhaltungswert als Praktische Relevanz? Dazu im Interview: Norbert Keimling, Leiter der Kapitalmarktforschung bei StarCapital.

Herr Keimling, zum Jahreswechsel mehren sich wieder die Jahresausblicke. Sie untersuchten solche Prognosen. Wie sind solche kurzfristigen Prognosen zu bewerten?

Analysten lagen mit ihren aufwändig erstellten Dax-Prognosen für das jeweils kommende Jahr seit der Jahrtausendwende im Durchschnitt um 18 Prozent daneben. Krisen wurden in keinem Jahr von den Konsensschätzungen vorhergesagt. Was mich hierbei fasziniert: jeder Markteilnehmer, der konstant acht, zehn oder zwölf Prozent Wertzuwachs für das jeweils nächste Jahr im Dax prognostiziert hätten, läge im Mittel auch 18 Prozent daneben. Meiner Meinung nach haben kurzfristige Aktienmarktprognosen eher Unterhaltungswert als praktische Relevanz.

Was sind Ihrer Meinung nach deren häufigste Fehlerquellen?

Die Märkte werden kurz- bis mittelfristig primär von unvorhersehbaren Ereignissen wie Wahlergebnissen, Terroranschlägen, Überraschungen der Notenbanken, Ölpreisschocks usw. geprägt. Ohne Glaskugel lassen sich diese Ereignisse nicht vorhersagen. Und selbst wenn, ist die Marktreaktion häufig schwieriger zu prognostizieren als man denkt. Nehmen Sie das Jahr 2016. Kaum jemand glaubte an eine Wahl Trumps und die Wenigen die seinen Wahlsieg doch für möglich hielten, fürchteten fast einstimmig Kursverluste in solch einem Szenario. Heute im Nachhinein verknüpft jeder den Trump-Effekt an den Börsen ganz selbstverständlich mit Kursgewinnen.

Was bedeutet diese Ungewissheit für Aktienanleger?

Anleger konnten in den letzten 100 Jahren mit globalen Aktien im Durchschnitt reale Wertsteigerungen von jährlich rund sechs bis sieben Prozent erzielen, ab einem Anlagezeitraum von 20 Jahren verbuchten Anleger sogar inflationsbereinigt immer Gewinne. Keine andere Anlageform – weder Anleihen, Kasse, Gold oder Immobilien – bot ein vergleichbares Renditepotenzial und alle anderen Anlagen hatten deutlich längere Durststrecken.

Dieses langfristige Renditepotential und der langfristige Inflationsschutz werden jedoch mit einer kurzfristigen Unsicherheit erkauft. Diese Unsicherheiten können antizyklische Investoren ausnutzen. Denn je länger der Anlagehorizont, desto weniger hängt die Aktienmarktentwicklung von unvorhersehbaren Ereignissen ab, sondern vielmehr von der fundamentalen Bewertung.

Für langfristige Analysen plädieren Sie vor allem auf fundamentale Kennzahlen wie das Shiller-KGV und das Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV). Warum ist das so?

Wir haben in einer internationalen Studie 2016 nachgewiesen: In den vergangenen Jahrzehnten konnte man mit diesen Kennzahlen die Wertsteigerungen an den Aktienmärkten für die jeweils folgenden zehn bis 15 Jahre besser vorhersagen, als mit allen anderen Kennzahlen.

Nehmen wir ein Beispiel: Hätten Sie im Dax in den vergangenen Jahrzehnten immer dann investiert, wenn das Shiller-CAPE zehn unterschritt, hätten Sie sich in den Folgejahren an durchschnittlich zehn Prozent jährlichen Wertzuwachs erfreut. Investoren, die dagegen in Phasen hoher Bewertung mit Shiller-CAPEs über 30 investierten, verdienten über die folgenden zehn bis 15 Jahre gerade einmal 0,7 Prozent. Dieser Zusammenhang zeigte sich global und auch beim KBV. CAPE und KBV ergänzen sich auch theoretisch gut, da das CAPE die Ertragskraft eines Landes bewertet, das KBV den Substanzwert.

Bei diesen Kennzahlen gibt es jedoch auch Kritiker. Das Shiller-KGV bezieht sich auf vergangenheitsrelevante Daten, das KBV bezieht keine immateriellen Werte wie Kundenstamm, Ausbildung etc. ein. Was entgegnen Sie solchen Argumenten?

Seit mehr als 100 Jahren wurde die Aussagekraft fundamentaler Bewertungskriterien in nahezu jeder Überbewertungsphase mit ähnlichen Argumenten kritisiert. Das gilt auch für das Jahr 2000, als Bewertungskriterien als überholt galten. Fakt ist, dass sich diese Argumente bislang stets als falsch herausstellten und Templetons Zitat hier zur Vorsicht mahnt: „The four most expensive words are‚ this time it’s different.“ Deshalb favorisieren wir Länder und Regionen die attraktiv bewertet sind.

US-Aktien sind zwar seit Jahren überbewertet, trotzdem erzielten sie höhere Renditen als Unternehmenstitel anderer Regionen. Bei Ihnen ist die USA nur mit rund einem Prozent im Portfolio vertreten. Sind Sie damit nicht deutlich unterinvestiert?

Die Wertsteigerungen des US-Marktes der letzten Jahre zu verpassen, tat natürlich weh. Aber je höher eine Bewertung steigt, desto größer ist das Verlustpotential. Langfristig werden Aktienmärkte mit einem Shiller-CAPE von circa 18 und einem KBV von 1,8 bewertet. Der US-Markt notiert aktuell mit einem CAPE von 29,7 und einem KBV von 3,2 etwa 70 Prozent höher. Das sollte zur Vorsicht mahnen und ist für uns Grund genug den US-Markt zu meiden.

Was sind besonders günstig bewertete Märkte und Sektoren, welche sollte man eher meiden?

Als Antizykliker suchen wir Investments die attraktiv bewertet sind, die die letzten Jahre enttäuscht haben und ein schwaches Sentiment zeigen, also das exakte Gegenteil des US-Marktes. Solche lukrativen Situationen sehen wir aktuell in den Emerging Markets und hierbei insbes. in Asien und Osteuropa.

Auf Branchenebene bieten bspw. Energie- und Rohstoffunternehmen großes Potential. Auch hier kaufen wir nicht trotz der langfristigen Underperformance, sondern genau deswegen. Denn auch auf Sektorebene zeigen sich langfristige Zyklen. Ein Beispiel: Energieunternehmen erzielten zwar die vergangenen zehn Jahre die schlechteste Performance unter allen MSCI-Sektoren, in den zehn Jahren zuvor jedoch die höchste. Gewinner und Verlierer wechseln sich ab. Das zeigt sich auch beim aktuell renditestärksten Sektor der vergangenen zehn Jahre. IT-Unternehmen erzielten von 2008 bis 2018 die höchsten Wertzuwächse unter allen MSCI-Sektoren, in der Dekade zuvor von 1998 bis 2008 die geringsten.

Die Gewinner der vergangenen zehn Jahre enttäuschen häufig in der folgenden Dekade

RANG PERFORMANCE 10 JAHRE 11/2008-11/2018 11/1998-11/2008 RANG
1 IT 470% -42% 10
2 CONSUMER DISCRET 405% -28% 8
3 HEALTH CARE 326% -7% 6
4 INDUSTRIALS 255% 10% 5
5 CONS STAPLES 228% 20% 4
6 FINANCIALS 179% -24% 7
7 TELECOM 150% -35% 9
8 MATERIALS 145% 58% 2
9 UTILITIES 103% 48% 3
10 ENERGY 67% 117% 1

Quelle: StarCapital per 30.11.2018 auf Basis von MSCI-Sektoren in EUR.